Wenn auch schon ein etwas älterer Artikel aus dem Jahr 2009, ist er doch erschreckend treffend für unsere verrückt gewordene Welt.
"... Es gibt aber nicht nur diesen ganz normalen Wahnsinn einiger weniger wie Hitler und Stalin, es gibt auch all die vielen wahnsinnig Normalen, Menschen, die, koste es, was es wolle, zu jeder Zeit im Trend liegen wollen, die mitlaufen und die immer genau wissen, was man sagen muss und was man nicht sagen darf. Diese wahnsinnig Normalen klatschen gern Beifall, wenn sie in Masse auftreten. Dann jubeln sie auch Hitler zu, Stalin, Mao Tse-tung und Kim Il-sung. Dann stehen die wahnsinnig Normalen in Reih und Glied vor irgendeinem abscheulichen Repräsentanten des ganz normalen Wahnsinns und fühlen sich wohl. ..."
Zitat von "welt.de"Alles anzeigenNicht die Verrückten, die Normalen sind das Problem - WELT
Von Manfred Lütz | Veröffentlicht am 22.11.2009War Hitler eigentlich verrückt? Gewiss, normal ist es nicht, einen Weltkrieg auszulösen und Völkermord zu betreiben. Doch ist das schon gleich krank? Keineswegs! Denn wenn es so wäre, dann müsste man einen Hitler vielleicht sogar für schuldunfähig erklären. Zweifellos war der Mann aus Braunau am Inn eine monströse Erscheinung, maßlos in seinem Hass, in seiner Aggression, in seinem Vernichtungswillen, aber krank war er eben nicht. Zu behaupten, Adolf Hitler sei krank gewesen, banalisiert das Entsetzliche der historischen Katastrophe, die mit diesem Namen verbunden ist. Man hätte dann Hitler ja nur anständig psychiatrisch behandeln müssen, und das ganze Problem hätte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Mit ein bisschen Medikation, ein bisschen betreutem Wohnen und vor allem Arbeitstherapie für einen psychisch gestörten Münchner Kunstmaler wäre der Tod von Millionen von Menschen zu verhindern gewesen. Doch das ist Unsinn. Hitler war normal, schrecklich normal. Er war so normal, dass er sogar eine besondere Fähigkeit hatte, sich ganz genau auf die Normalen einzustellen, nämlich genau das zu sagen, was die hören wollten, was bei denen ankam.
Joachim Fest hat in seiner klassischen Hitler-Biografie historische Größe an der Frage festgemacht, ob ein Mensch das Denken und Fühlen einer Zeit zu bündeln vermag - und er kam erschreckenderweise zum Ergebnis, dass man insoweit Adolf Hitler Größe nicht schlechterdings absprechen könne. Denn in der Tat bedurfte es einer gewaltigen Kommunikationsleistung, unter dem Einsatz populistischer Rhetorik höchst erfolgreich Stimmung für sich selbst zu machen, Menschen auf sich zu fixieren, für seine Zwecke zu benutzen und dann einen ganzen Staat, ja eine ganze Welt in einen Krieg hineinzutreiben. Hitler war zutiefst böse, er war einer der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte. Eine psychische Störung hätte einen solchen über fast dreißig Jahre andauernden, kräftezehrenden Prozess schon im Ansatz unmöglich gemacht.
Wenn man als Psychiater tagsüber mit psychisch kranken Menschen zu tun hat, rührenden Dementen, feinfühligen Süchtigen, dünnhäutigen Schizophrenen, empfindsamen Depressiven, hinreißenden Manikern, all den anderen farbigen Gestalten der Psychowelt, und man sieht dann abends die Nachrichten über blutrünstige Kriegshetzer, gewissenlose Wirtschaftskriminelle, rücksichtslose Egomanen, dann kann man auf die Idee kommen: Nicht die Verrückten, sondern die Normalen sind unser Problem!
Es gibt aber nicht nur diesen ganz normalen Wahnsinn einiger weniger wie Hitler und Stalin, es gibt auch all die vielen wahnsinnig Normalen, Menschen, die, koste es, was es wolle, zu jeder Zeit im Trend liegen wollen, die mitlaufen und die immer genau wissen, was man sagen muss und was man nicht sagen darf. Diese wahnsinnig Normalen klatschen gern Beifall, wenn sie in Masse auftreten. Dann jubeln sie auch Hitler zu, Stalin, Mao Tse-tung und Kim Il-sung. Dann stehen die wahnsinnig Normalen in Reih und Glied vor irgendeinem abscheulichen Repräsentanten des ganz normalen Wahnsinns und fühlen sich wohl.
Die Psychoanalyse lehrt, dass Menschen schwer gestört sind, wenn sie Teile ihrer Lebensgeschichte oder ihrer psychischen Existenz von sich abspalten. Genauso schlecht ist es um eine Gesellschaft bestellt, die das Verrückte in ihr bloß ausstößt, im besten Fall in eigenen abgeschlossenen Bereichen professionell versorgen lässt und sich ein starres, intolerantes Selbstbild von Normalität zulegt, das bloß Fassade ist. Eine auf diese Weise selbstunsichere Gesellschaft wäre nicht souverän und gelassen, sondern bei jedem Kratzen an dieser Fassade bereits zutiefst beunruhigt, latent aggressiv und damit auf dem besten Weg zur Diktatur der Normalität, die die eigene Unsicherheit mit schlichten Parolen überspielt und alles Abweichende rücksichtslos bekämpft.
"Normal ist leichter Schwachsinn", dieser eigentlich nur mit Bezug auf die menschliche Intelligenz geprägte berühmte Satz eines Psychiaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts irrlichtert heute voll Ironie. Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben jedenfalls die Instrumente erfunden und ausprobiert, mit denen man eine solche Diktatur der Normalität umsetzen kann. Auch wenn sich jene Staatsformen im Kampf der Systeme als zu schwach erwiesen: Dass man eine Gesellschaft mit modernen Methoden uniformieren kann, ist nun für immer im Gedächtnis der Menschheit gespeichert. Sind wir heute wieder so weit? Schon klagen Philosophen darüber, dass man inzwischen längst nicht mehr so frei reden kann wie noch vor fünfzig Jahren, dass die Political Correctness alle Bereiche des Lebens ergreift und die Öffentlichkeit gnadenlos über Menschen herfällt, die sagen, was man nicht sagen darf.
Gerade das aber tun Menschen mit psychischen Störungen. Sie lassen sich nicht uniformieren. Damit erweisen sie uns allen einen großen Dienst, denn sie halten die humane Temperatur einer Gesellschaft über dem Gefrierpunkt, indem sie ihr nicht nur ein menschliches Gesicht, sondern ganz viele unterschiedliche menschliche Gesichter geben. Wie der jüngste Fall des schwer depressiv erkrankten Robert Enke zeigt, weiß die Öffentlichkeit viel zu wenig von psychischen Krankheiten. Da ist dringend Aufklärung angesagt. Wir haben heute die große Chance, endlich die unsichtbaren Schranken niederzulegen, die immer noch die Normalen von den anderen trennen. Dann wird der Blick frei auf diese liebenswürdige und bunte andere Welt, die chaotischer, aber auch fantasievoller, die erschütternder, aber auch existenzieller, leidvoller, aber auch weniger zynisch ist als die glatt lackierte Normalität.
Da sind die eitlen Erfolgsmenschen, die als Demente hilfsbedürftig, aber dadurch zugleich auch erstmals wirklich echt und anrührend wirken. Da sind die immer so korrekten und empfindsamen Süchtigen, die ihr Leben lang unermüdlich auf der Suche sind nach einem Menschen, der sie nicht mehr beschämt, verachtet, verletzt, und die sich im Rausch hinaussehnen aus einer ihrer Empfindsamkeit so rücksichtslos zusetzenden Welt. Da sind die weisen Schizophrenen, die nicht bloß in einer, sondern in ganz vielen fantastischen Welten leben, die sich jeder uniformierenden Zudringlichkeit ihrer Mitmenschen höflich verweigern und ihr Geheimnis niemandem aufdrängen. Die dünnhäutiger sind als andere, aber dadurch auch sensibler für manches, das uns nicht der Rede wert erscheint. Da sind die erschütternd Depressiven, die angstvoll ins existenzielle Nichts starren, die für eine Zeit ihres Lebens unfähig geworden sind, ihren Blick von den alles infrage stellenden Urerfahrungen des Menschen wegzuwenden, von auswegloser Schuld, von existenzieller Bedrohung, von hoffnungsloser Angst. Über sie hinweg tanzt eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds, die blind ist für die wichtigen Fragen - und diese Blindheit komischerweise für normal hält.
Da sind die hinreißenden Maniker, die in ihrer prallen und unmittelbaren Vitalität mitten in eine in leblosen Riten erstarrte Normalgesellschaft hineinplatzen. Die trotz all ihres Größenwahns hemmungslos die Wahrheit sagen, so wie Kinder es manchmal tun, und dadurch plötzlich all die Verlogenheiten der "Normalen" spektakulär entlarven. Da sind all die Menschen, die von Lebensereignissen aus der vorgezeichneten Bahn geworfen wurden und die nun angeschlagen und vom Leben gezeichnet ihren wirklichen Weg suchen, der oft durch Leidensphasen hindurch zu größerer Reife und tieferer Gelassenheit führt. Und da sind all diese schrillen Gestalten, die sich und andere immer wieder nachhaltig beunruhigen, die so gar nicht normal, aber auch nicht eigentlich krank sind. Sie bringen Farbe in ein dahinplätscherndes Leben, es sind die Aufreger, die Übertreiber, die allzu kantigen Gestalten, an denen man sich gelegentlich verletzen kann und an denen man zugleich kaum vorbeikommt.
Die Tyrannei der Normalität lebt von der großen Illusion der ewigen Weiterexistenz des Normalen und der Flüchtigkeit des Außergewöhnlichen. Dabei wird es wohl eher umgekehrt sein. Denn das Normale ereignet sich nicht, es ist nur der Hintergrund für das Eigentliche. Im Grunde existiert das Normale nicht, denn es hat keine Substanz. Die Frage nach der Ewigkeit stellt sich erst angesichts der Unwiederholbarkeit eines Menschen, und wer da genauer hinsieht, kann die Außergewöhnlichkeit eines jeden Menschen gewahren. Dann kommen in hellen Momenten sogar hinter dem Schleier der wohlanständigen Normalität all der Normopathen die längst vergessenen lebendigen Farben zum Vorschein, und an diese einmaligen Färbungen erinnert man sich, wenn man sich an Menschen erinnert.
Der Autor ist Psychiater, Psychotherapeut und Theologe. Soeben erschien sein Buch "Irre. Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde"
Quelle: welt.de